Verfolgt, bedürftig, gestärkt - repeat?

15.06.2020


Eine boomende Wirtschaft und wachsender internationaler Einfluss. Das ist China. Aber umstrittene Gesetze und Menschenrechtsverletzungen – das ist auch China. Vor einem halben Jahrhundert wurden Christen in China stark verfolgt. Wiederholt sich nun die Geschichte?



2018 wurden in China neue, schärfere Religionsgesetze eingeführt und seither unzählige Kreuze von Kirchen abgenommen, Pastoren verhaftet und Minderjährigen der Zutritt zu Gotteshäusern versagt. Die älteren Gläubigen kennen das. In den 1950ern bis in die 1980er Jahre hinein haben chinesische Christen Verfolgung erfahren.

Wenn man die Entwicklung der chinesischen Christenheit in den letzten vier Jahrzehnten betrachtet, kann man zwei bedeutende Dynamiken ausmachen: Zum einen die politische Verfolgung, der die Kirche ausgesetzt war und nun wieder ist; und zum anderen die „interne Kapazität“ der Kirche. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Leiter auszubilden, Material für ihre verschiedenen Veranstaltungen zu entwerfen, theologische Themen abzuhandeln und in der Gesellschaft Zeugnis abzulegen.

Nach der massiven Verfolgung zur Zeit der Kulturrevolution (1966-1976) sah sich die chinesische Kirche auch während der Reform- und Öffnungspolitik der 1980er Jahre Einschränkungen ausgesetzt. Jugendlichen wurde der Kirchenbesuch nur eingeschränkt gestattet und Beziehungen zu ausländischen Organisationen erschwert. Viele Hauskirchenleiter wurden wiederholt inhaftiert. Zwischen der staatlich anerkannten Denomination „Patriotische Drei-Selbst-Bewegung“ und den nicht registrierten Haus- und Freikirchen gab es Spannungen.

Was die internen Kapazitäten anbelangt, so war die Kirche in vielerlei Hinsicht unterentwickelt und kämpfte. Die meisten Gläubigen wohnten zerstreut auf dem Land. Es gab nicht viele Pastoren und Bibeln waren knapp. Aufgrund des schrecklichen Leids, das die chinesische Kirche während der Kulturrevolution erfahren hatte und der genannten Einschränkungen der 1980er Jahre, sprach man von der chinesischen Kirche zurecht von einer „verfolgten Kirche“.

Erst als China im Jahr 2000 der Welthandelsorganisation beitrat, ließ die Verfolgung nach. Ausländische Organisationen hatten fortan mehr Möglichkeiten, die Christen im Reich der Mitte zu unterstützen. So entstanden neue Plattformen für medizinische und soziale Dienste und viele Ausbildungsprogramme für christliche Leiter, an denen sowohl Mitglieder der registrierten als auch der nicht registrierten Gemeinden teilnahmen. Die Kirche war zu dieser Zeit weniger eine verfolgte, als vielmehr eine bedürftige Kirche.

Einen weiteren Wendepunkt in der chinesischen Kirchengeschichte bildet das Erdbeben in Sichuan acht Jahre später. Unter den Gläubigen gab es eine Welle der Solidarität für ihre chinesischen Mitbürger, wofür man ihnen auch von offizieller Regierungsseite Anerkennung zollte. Nach und nach wurde die Christenheit zu einer gestaltenden Kraft in der Gesellschaft. Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Einfluss Chinas auf der Welt, sahen die Gläubigen des Landes auch den Auftrag verbunden, das Evangelium in andere Länder zu bringen und entsandten Missionare.

Nach der Machtübernahme des aktuellen Staatspräsidenten Xi Jinping im Jahr 2012 begann der Druck auf die Kirche wieder zu wachsen. Unter seiner Herrschaft wurden neue Gesetze zur nationalen Sicherheit erlassen, darunter auch Bestimmungen über ausländische NGOs sowie neue Vorschriften zur Religionsausübung, die mindestens denen in den 1980er Jahren ähneln.

Deshalb ist heute wieder die Rede von einer „verfolgten Kirche“ in China. Beginnt die Geschichte sich zu wiederholen? Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass dem nicht so ist. Denn im Bezug auf die interne Kapazität ist die chinesische Kirche an einem anderen Punkt als zur Zeit der Kulturrevolution. Sie ist bei weitem nicht mehr so bedürftig und abhängig von ausländischen Ressourcen und Personal.

 

 

Quelle: Dieser Artikel beruht auf dem Blogbeitrag „The Evolving Narratives“ der Plattform chinasource.org