Endlich vergeben können
Palästinensische Autonomiegebiete

Endlich vergeben können

Ich möchte, dass er den schlimmsten Tod aller Zeiten stirbt und in die Hölle fährt.“ Als Pauline Ayyad erfuhr, dass die Behörden endlich den Mörder ihres Ehemanns festgenommen hatten, wollte sie nur eines: Vergeltung.

Rami Ayyad war Leiter der christlichen Buchhandlung in Gaza-Stadt. An einem Herbstabend im Jahr 2007 rief er seine Frau Pauline an und sagte ihr, er sei mit einigen bärtigen Männern unterwegs und würde für einige Zeit nicht nach Hause kommen. Das war das letzte Mal, dass Pauline mit ihrem Mann sprechen sollte. Am nächsten Morgen fand man Ramis Körper auf einem Feld. Mehrfach war auf ihn geschossen und eingestochen worden.


„Gott hatte es uns schon immer aufs Herz gelegt, ihm zu dienen. Anfangs wussten wir nicht, welchen Dienst er von uns wollte.“

Ein gefährlicher Job

Die Buchhandlung, in der Rami tätig war, gehörte zur Bibelgesellschaft in Gaza und befand sich im Gebäude einer Gemeinde. Hier waren Rami und Pauline seit vielen Jahren aktive Gemeindemitglieder. Rami hatte bei einer Bank gearbeitet, um für den Lebensunterhalt seiner Familie zu sorgen. „Gott hatte es uns schon immer aufs Herz gelegt, ihm zu dienen. Aber anfangs wussten wir nicht, welchen Dienst er von uns wollte“, berichtet Pauline. Doch zwei Jahre vor seinem Tod spürte Rami, dass Gott ihn dazu berief, seine Stelle bei der Bank aufzugeben und die Bibelgesellschaft in Gaza zu leiten.

Das Gemeindehaus, in dem sich die Buchhandlung befand, wurde oft bedroht und zweimal gab es einen Bombenanschlag. Pauline war daher von Ramis Plänen beunruhigt. Schließlich hatte das Paar zwei kleine Kinder. „Ich hatte damals große Angst und sagte Rami, dass ich mich nicht wohl mit dieser Entscheidung fühlte – aber er hatte Frieden im Herzen“, sagt sie. Rami erklärte ihr: „Ich muss dem gehorchen, was Gott auf mein Herz gelegt hat.“ Nachdem Rami seinen Job in der Buchhandlung angetreten hatte, ließen Paulines Ängste langsam nach und die beiden begannen, Programme wie ein Kinderbibelstudium zu leiten. „Es wurde unser neuer Alltag“, sagt Pauline, auch wenn Bedrohung zu Ramis Berufsalltag gehörte.
 

„Was können sie schon machen?“

Ein paar Wochen vor Ramis Ermordung kam ein Scheich in den Buchladen und forderte Rami auf, zum Islam zu konvertieren. Aber Rami weigerte sich: Ich kann dich nicht zum Christen machen und du mich nicht zum Muslim.“ Unheilverkündend antwortete der Scheich: „Ich weiß schon, wie ich dich zum Muslim machen kann.“ Als Rami seiner Frau davon erzählte, spürte sie, dass er die Gefahr akzeptierte, in der er sich befand. „Was können sie schon machen?“ fragte er gelassen. „Das Einzige, was sie tun können, ist, mich zu töten, und dann werde ich für Jesus getötet.“ Pauline verstand nicht, dass er so ruhig bleiben konnte. Aber sie merkte, dass er bereit dazu war, für seinen Glauben zu sterben. „Gott hatte ihn darauf vorbereitet“, erkannte sie.

Am 6. Oktober 2007, gegen 16:30 Uhr, schloss Rami den Buchladen und machte sich auf den Heimweg. Als er nicht zur erwarteten Zeit nach Hause kam, begann Pauline, sich Sorgen zu machen. Sie rief die Leitung der Bibelgesellschaft an, aber auch dort hatte man nichts von ihm gehört. Gegen 18:00 Uhr klingelte das Telefon. Es war Rami, der ihr zu verstehen gab, dass man ihn entführt hatte. Am nächsten Morgen klingelte das Telefon erneut. Dieses Mal war es Ramis Bruder. Mit leiser Stimme sagte er ihr, dass man Ramis Körper gefunden hatte. Für Pauline, die mit ihrem dritten Kind schwanger war, war es, als zöge man ihr den Boden unter den Füßen weg. „Ich habe bitterlich geweint, Gott Vorwürfe gemacht und ihn gefragt: ,Warum passiert mir das?‘“, erinnert sie sich. Ihr kam der Vers aus Römer 8:28 in den Sinn: „Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten dient.“ Aber Pauline war nicht bereit, die trostvollen Worte der Bibel anzunehmen. „Damals habe ich den Vers abgelehnt. Was kann es Gutes bringen, wenn mein Mann getötet wird? Ich war sehr, sehr wütend auf Gott.“


Kampf gegen Trauer und Depression

In den nächsten fünf Jahren kämpfte Pauline mit Depressionen, während sie versuchte, ihre Trauer zu bewältigen. „Oft fühlte ich mich einfach nur niedergeschlagen“, sagt sie. „Immer wieder klagte ich: ‚Gott, du hast mich zur Witwe gemacht. Warum haben meine Kinder keinen Vater?‘“ Doch obwohl diese Jahre unglaublich schwer waren, wusste Pauline, dass Gott immer noch bei ihr war. „Wenn ich über meine eigene Situation grübelte, fühlte ich mich deprimiert, aber wenn ich zu Gott blickte, half er mir und richtete mich auf.“

Dort, wo Pauline damals lebte, erklang fünf Mal am Tag der islamische Gebetsruf. Jeder einzelne wurde für sie zu einer Provokation. Christliche Freunde drängten Pauline, dem Mörder ihres Mannes zu vergeben. Aber Pauline fand, dass ihre Freunde ihre Wut nicht beurteilen konnten – schließlich war es nicht ihr Leben, das zerstört worden war. Ihre Freunde ermutigten sie zudem dafür zu beten, dass Ramis Mörder Jesus Christus kennenlernen würde, um in den Himmel kommen zu können. „Aber das wollte ich nicht“, sagt Pauline. „Für mich war es einfach nicht in Ordnung, dass Ramis Mörder Jesus annehmen und ewiges Leben bekommen sollte.“ Mit der Zeit steigerte sich Paulines Zorn immer mehr. Doch irgendwann war sie von ihrer Wut erschöpft. Müde entschloss sie sich zu einem Gebet und flehte: „Ich weiß, dass ich deine Tochter bin, und dass ich vergeben muss. Aber ich kann das nicht. Hilf mir! Befähige mich dazu, auf eine echte Weise zu vergeben.“ Ein Jahr lang betete sie täglich dieses Gebet.

Ein Wendepunkt

Im Jahr 2012, fünf Jahre nach Ramis Tod, wurden Pauline und ihre Kinder zu einer Konferenz zum Thema Vergebung eingeladen. Während der Konferenz forderte der Pastor die Teilnehmer auf, sich eine Person vorzustellen, der sie vergeben müssten. Pauline dachte sofort an den Mann, der ihren Mann getötet hatte. Sie wusste: Gott wollte, dass sie diesem Mann vergab, wer auch immer er war. Am letzten Tag der Konferenz fragte der Pastor, ob jemand Gebetsunterstützung brauche. Entschlossen meldete sich Pauline. Mehrere Christen nahmen sie in ihre Mitte, um für sie zu beten. Und Pauline selbst rief: „Gott, ich möchte vergeben!“ In diesem Moment habe sie gespürt, wie der Heilige Geist ihre Seele berührte, erinnert sie sich. „Ich öffnete meine Augen und fühlte mich wie ein neuer Mensch“, staunt sie noch jetzt. Danach begann Pauline, alles über Vergebung nachzulesen, was in der Bibel stand. „Mir wurde klar, dass es eine Sünde ist, nicht zu vergeben“, sagt sie. „Früher dachte ich, es sei mein Recht, nicht zu vergeben.“


„Mir wurde klar, dass es eine Sünde ist, nicht zu vergeben“


Christen in Gaza

Der Gaza-Streifen ist ein Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete und wird von der militanten Organisation Hamas regiert.

Fast 2 Mio. Menschen leben dort, 99,8 % sind sunnitische Muslime. Die größte religiöse Minderheit bilden die Christen, deren Zahl zuletzt von 3000 auf 1200 gesunken ist.

Der Mörder wird gefasst

Im Jahr 2017 verhafteten die Behörden den Mann, der vermutlich Ramis Mörder war. Man verdächtigte ihn, nicht nur Rami, sondern auch einen Hamas-Führer und einige palästinensische Polizisten getötet zu haben. Seine Festnahme brachte Paulines ganze Wut erneut zum Ausbruch. Einen Moment lang dachte sie, dass sie dem Mörder niemals wirklich würde vergeben können. „Es war, als würde Satan mir schlechte Gedanken einflüstern und mich immer wieder daran erinnern, dass diese Person mich zur Witwe gemacht hat“, sagt sie.

Aber dann erinnerte Gott sie daran, dass sie Ramis Mörder bereits vergeben hatte – und dass Ramis Tod ein Zeugnis für seinen Glaubens an Jesus gewesen war. „Als mir das klar wurde, bereute ich meine falschen Gedanken. Ich postete im Internet, dass ich dem Mörder vergebe und um Segen für ihn bete.“ Damit verärgerte sie viele Menschen, auch Familienangehörige, die lieber Rache für den Mord an Rami wollten. Kurz vor der Hinrichtung fragte sie ihren ältesten Sohn George, was er von dem Mörder halte. „Seine Antwort hat mich überrascht“, erzählt Pauline. „Er sagte: ‚Ich vergebe ihm und bete, dass er in den Himmel kommt und dort meinen Vater trifft.“ Ramis Familienangehörige baten sie, nicht noch einmal öffentlich über ihre Vergebung zu sprechen. Doch Pauline wusste, sie musste Gott gehorchen und so postete sie eine weitere Nachricht. Sie beschrieb ihren großen Schmerz seit Ramis Tod und erklärte, dass Gott sie dazu gebracht habe, seinem Mörder zu vergeben. Ihr Online-Beitrag erreichte die Herzen vieler Menschen. Sogar Ramis Familie entschloss sich nach dem Post, dem Mörder zu vergeben.

„Vergebung ist eine Entscheidung, aber auch ein Prozess, der nicht über Nacht geschieht. Das habe ich erlebt“, sagt Pauline. „Man kann nicht aus eigener Kraft vergeben, aber wenn man einen echten, ehrlichen Willen hat und Gott darum bittet, hilft Gott zu vergeben.“

Anteilnehmen und Lernen

„Stimme der Märtyrer“ – Das Magazin der Hilfsaktion Märtyrerkirche

Das Magazin gibt den um ihres Glaubens Willens verfolgten und bedrängten Christen eine Stimme durch ...

  • authentische Berichte von Glaubensgeschwistern,
  • ergreifende Reportagen über ungewöhnliche Erlebnisse,
  • interessante Länder-Infos und
  • aktuelle Gebetsanliegen.
Das alles und noch viel mehr finden Sie monatlich auf zwölf Seiten, die herausfordern und Mut machen.

Jetzt kostenlos abonnieren
Jetzt abonnieren