In letzter Minute
Kolumbien

In letzter Minute

Luis und seine Frau Sofia waren sich gewiss, dass Gott sie in ihrer Heimatstadt gebrauchen wollte. So machte sich das Pastorenpaar nach etlichen Jahren des Dienstes in Kolumbiens sogenannten „roten Zonen“ – den von paramilitärischen Gruppen kontrollierten Gebieten – auf den Weg zurück nach Hause, um eine Gemeinde zu gründen.

Luis und Sofia wussten, dass die Stadt in der Region liegt, die von Mitgliedern der marxistischen Guerillagruppe FARC besetzt war – den „Revolutionären Bewaffneten Kräften von Kolumbien“. Trotzdem waren sie sich gewiss, dass Gott sie in diese Kleinstadt berufen hatte, um dort das Evangelium zu predigen und Menschen zu Jesus zu rufen. Ihre Arbeit trug schnell Früchte, bald schon zählte die von ihnen neu gegründete Gemeinde 70 Mitglieder. Dann begann die FARC, sie als Bedrohung zu betrachten.

Für Luis war das keine Überraschung. Er hatte schon damit gerechnet, da die FARC Menschen mit christlichen Werten ablehnt – weil sie nicht lügen, sich nicht für den Kampf anwerben lassen und auch nicht bereit sind, Kokapflanzen zur Drogenherstellung anzubauen. Außerdem befürchtete die FARC, dass Christen Dinge über sie verbreiten könnten, die besser geheim bleiben sollten. Nach und nach versuchte die Guerillagruppe, die Kontrolle über die neue Gemeinde zu übernehmen. Sie wollte Luis vorschreiben, wie er die Dankopfer im Gottesdienst und den Zehnten, den die Gemeindeglieder gaben, verwenden sollte. Nach einer Weile bemerkten Luis und Sofia zudem, dass es unter den Gemeindegliedern einige Spione der FARC gab. Luis und Sofia wussten, dass sie Gottes Willen tun, aber sie hatten auch Angst. Immer wieder erinnerten sie sich gegenseitig daran, dass sie einem allmächtigen Gott dienen.

Drei Stunden hatten die Christen bis zum Aufbruch – und Luis blieb bis zum Schluss.

Mitten in Straßenkämpfen

Im März 2021 war Luis mit Arbeiten an seinem Haus beschäftigt, als er auf einmal Schüsse hörte. Er rief die ganze Familie zusammen und gemeinsam rannten sie zum Haus ihres Cousins, um sich dort zu verstecken. Eine Gruppe von Rebellen, die sich von der FARC abgespalten hatte, wollte der FARC die Kontrolle über die Stadt entreißen. Es gab regelrechte Straßenkämpfe. Am Ende gewann die FARC, sechs der in den Kampf verwickelten Guerillas lagen tot im Straßengraben. Kurz darauf forderten einige der FARC-Mitglieder alle Bewohner der Kleinstadt auf, aus ihren Häusern zu kommen. Sofia erschrak. Sie dachte, dass nun alle erschossen werden würden. Doch die FARC wollte die Bewohner nur darüber informieren, dass zwei Frauen aus der Gemeinde erschossen worden waren.

Luis machte sich rasch auf den Weg zum Haus der beiden getöteten Frauen, in dem sich bereits eine Gruppe von Frauen aus der Gemeinde versammelt hatte. Die Guerillas wollten Luis den Zutritt verbieten, aber er ließ sich nicht davon einschüchtern. „In diesem Moment hatte ich überhaupt keine Angst“, sagt er rückblickend. „Ich wollte einfach nur in das Haus zu den beiden Schwestern unserer Gemeinde. Ich fürchtete mich nicht, denn sie waren ein Teil unserer Gemeinde gewesen, und ich war ihr Pastor.“

Gräber ausheben für die Toten

Es war unklar, ob die beiden Frauen mit Absicht erschossen worden waren oder ob sie nur unglücklicherweise mitten in die Straßenkämpfe geraten waren. Luis half dabei, die sterblichen Überreste der Schwestern aus dem Haus auf die Straße zu bringen. Dann zwangen Guerillas ihn und ein paar andere Christen, auf dem Dorffriedhof Gräber für die Toten auszuheben – zwei für die beiden Schwestern aus der Gemeinde und sechs für die Erschossenen beider Gruppen. „Es war fürchterlich. Ich habe keine Worte für das, was mir
in diesem Moment durch den Kopf ging“, sagt Luis. Während er die Gräber schaufelte, begann er, sich zu fragen, ob er wohl gezwungen sein würde, noch ein weiteres Grab auszuheben. „Manchmal zwingen sie dich, dein eigenes Grab zu schaufeln“, sagt er. So war es schon anderen Pastoren ergangen. „Sie erschießen dich und werfen dich dann rein.“

Am nächsten Tag demonstrierte die FARC ihre Kontrolle über die Kleinstadt noch deutlicher: Die Guerillas kündigten einen Lockdown für alle an. Wer auf der Straße gesehen werde, solle erschossen werden. Die Männer gingen durch das ganze Dorf, schüchterten die Familien ein und nahmen sich aus den Häusern mit, was immer sie wollten. „Sie hatten ganz klar Leute im Blick, zu denen sie gehen wollten – und das waren alles Christen“, sagt Luis. „Sie wussten genau, wonach sie suchten.“

Auf Gott zu vertrauen ist die Grundlage für ein Leben in einer unsicheren Situation.

Nur drei Stunden zum Aufbruch

Die Kämpfe der Rebellen untereinander gingen weiter. Dabei wurde auch das Haus der Gemeinde von Luis und Sofia zerstört. Tagelang konnte man von überall her Schüsse hören, manchmal auch Explosionen aus weiter Ferne. Luis und Sofia blieben mit ihren fünf Kindern tagelang in ihrem Versteck. Am Morgen des achten Tages schienen die Straßenkämpfe abzuflauen. Die FARC-Mitglieder teilten allen Christen mit, dass sie drei Stunden Zeit hätten, um ihre Stadt zu verlassen – oder sie würden erschossen werden. Alle anderen Dorfbewohner konnten bleiben.

Die 70 Christen rannten zu den Kanus und Motorbooten und füllten sie mit allem, was sie auf die Schnelle finden konnten. Einige der Boote waren übervoll, und Sofia konnte beobachten, wie eines der Boote anfing zu sinken, weil es überladen war. Luis und Sofia wollten sicher sein, dass alle Gemeindeglieder versorgt waren, bevor sie selbst die Stadt verlassen wollten. „Es war meine Aufgabe, mein Dienst“, sagt Luis. „Diese Verantwortung hatte Gott mir gegeben. Ich musste mich ja um meine Herde kümmern.“

Um die Mittagszeit waren alle Gemeindeglieder evakuiert worden. Auch einige Bewohner, die nicht zur Gemeinde gehörten, waren aus Angst um ihr Leben mitgeflohen. Vier seiner Kinder hatte Luis schon auf einem Boot untergebracht gehabt, während er und Sofia mit ihrem jüngsten Kind noch in der Stadt geblieben waren. Als sie zum Fluss kamen, stellten sie fest, dass kein Boot mehr für sie übrig war. Es gab keine Alternative. Sie mussten warten, ob sie irgendjemand mitnehmen würde. „Nur drei Stunden“, hatte die FARC angekündigt, wer dann noch in der Stadt sei, würde getötet werden. Die Zeit verging. „Ich weinte und betete“, erinnert sich Sofia. „Gott hatte trotzdem alles im Griff. Kurz vor Schluss kam noch ein Boot, und jemand nahm uns mit. Gott hatte es möglich gemacht, dass jemand mit einem kleinen Boot vorbeikam.“ Als sie in das Boot steigen wollten, versuchte einer der FARC-Guerillas, sie einzuschüchtern. „Ihr wisst, dass das Evangelium nichts wert ist.“ Doch das Ehepaar reagierte nicht darauf und stieg in das Boot, das sie zu ihrem neuen Zuhause transportieren würde. Dort wollten sie warten, bis sie wussten, was Gott mit ihnen vorhatte.

Ein neuer Anfang

Als sie an diesem neuen Ort ankamen, hatten sie buchstäblich nichts mehr. Luis und Sofia waren so damit beschäftigt gewesen, anderen Menschen zu helfen, dass sie weder Lebensmittel noch Kleidung oder Hygieneartikel für sich selbst eingepackt hatten. Aber sie erhielten Hilfe. „Wir danken Gott, dass es in dieser Stadt Geschwister gab, die uns Kleidung gaben und eine Unterkunft“, sagt Luis.

Der Rest der Gemeinde war in notdürftig konstruierten Zelten auf dem Gelände einer Schule untergekommen. Luis konnte weiterhin Gottesdienste anbieten. Die Nichtchristen, die zusammen mit ihnen aus dem Dorf geflohen
waren, kamen nun ebenfalls zu den Gemeindeveranstaltungen. Eine der Frauen fand kurz nach der Flucht zum Glauben an Jesus. Sofia lächelt, wenn sie sich daran erinnert: „Sie kam zum Gottesdienst und meinte, dass Gott wohl etwas mit ihr vorgehabt hatte, als er sie rettete.“

Diese Erfahrungen haben Luis‘ und Sofias Glauben gestärkt – und sie mutiger gemacht. Sie wollen tiefer graben – tiefer schürfen in ihrer Beziehung zu Gott und tiefer in unerreichte Gebiete mit dem Wort Gottes hineingehen. „Alles, was passiert ist, hat uns den Glauben umso wertvoller gemacht“, sagt Luis. „Gott hat sich um so vieles gekümmert.“ Das Ehepaar bittet um Gebet für Weisheit als Gemeindeleiter in dieser neuen Situation und für das Weitertragen des Evangeliums an ihrem neuen Ort. Die beiden beten, dass Gott Türen für sie öffnet, damit sie einige der Ideen verwirklichen können, die ihnen auf dem Herzen liegen, die sie aber bis jetzt noch nicht durchführen konnten. „Ich möchte Missionsarbeit machen“, das ist Luis’ Wunsch. „Ich liebe es, Missionar zu sein – und auch Pastor. Ich möchte gern beides sein.“

Luis, Sofia und ihre Kinder fingen am neuen Wohnort noch einmal ganz von vorn an.

Bitte beten Sie

für Luis, Sofia und ihre Familie um Weisheit, Gottes Führung zu erkennen, um offene Türen und um Bewahrung.

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